Ein Flug von Südfrankreich ins Tessin

6:30 Uhr. Sonnenaufgang. Die gelbe Schleppmaschine von Klaus Ohlmann steht am Start, am gelben Calif wird gerade das Seil eingehängt. Lärmend hebt der Schleppzug gegen den starken Nordwind ab. Wieder einmal bläst der Mistral, und wieder einmal startet Klaus zu einem 1000 km Ziel-Rück Richtung Bozen. Wird das Vorhaben gelingen? Ist der Mistral gut genug? Wie gelingt der Einstieg ins Wellenniveau?
Es ist der 21. März 1998. Unser Frühjahrs-Fliegerurlaub in Serres ist zu Ende. Jeder ist zufrieden, denn die Ausbeute war wie so oft sehr gut. Doch für Fridolin, Sebi und mich steht nicht die Heimfahrt an, sondern wir haben noch eine Woche Masera eingeplant. Im Frühjahr herrschen dort ebenso wie in Südfrankreich oft schon hervorragende Segelflug- bedingungen, insbesondere bei Nordlagen. Fliegen in Masera bedeutet fliegen mitten in den höchsten Bergen - zwischen dem im Südwesten emporragenden Monte Rosa Massiv und dem Flugplatz sind satte 4300 m Höhenunterschied!
Als im Februar klar war, daß Sebi mit von der Partie ist, schoß mir natürlich sofort die Möglichkeit durch den Kopf, bei geeigneten Bedingungen die Strecke Serres - Masera, oder zumindest einen Teil davon, im Discus in Angriff zu nehmen. Ich war mir sicher, Sebi würde meiner Bitte gerne nachkommen, Auto und Hänger zu überführen.
Am Vortag des 21. März hatte ich letzte Vorbereitungen getroffen, insbesondere ließ ich mir von Klaus nochmal schwierige Stellen, Ausweichrouten und, und, und ... erklären. Es war so gut wie sicher, daß am 21. der Mistral blasen würde, dennoch blieb eine gewisse Unsicherheit, da der Wind laut Vorhersage eher aus Nord bis Nordost kommen sollte als aus Nordwest. Und hier war sich selbst Klaus nicht im klaren, wie gut die sonst bei Nordwest übliche Route funktionieren würde. Aber probieren kommt nach dem studieren (oder so ...).
Endlich sitze ich im Discus. Es ist halb elf. Vor 4 Stunden ist Klaus gestartet. Wo er wohl ist? Mit 3 Hosen, T-Shirt, Hemd, Pulli, Jacke, Overall und Anorak, Handschuhen, Mütze und natürlich der bewährten Fußsohlenheizung in den Winterstiefeln denke ich, für das Vorhaben gut gerüstet zu sein. Auto mit Hänger ist ebenfalls startklar, und mit Sebi vereinbare ich, so lange wie möglich in Funkkontakt zu bleiben.
10:44 Uhr. Airborne again. Nach einer 180° Kurve klinke ich in 400 m. Der Arambre geht hervorragend. Der Hangwind reicht bis etwa 1500 m NN. Das ist nicht schlecht, garantiert aber noch lange nicht den Einstieg in den Aspres-Rotor. Der Wind bläst hier bereits mit 50 - 60 km/h. Beim Vorflug Richtung Aspres verliere ich glücklicherweise weniger als erwartet, so daß ich in ca. 1200 m NN direkt über dem Flugplatz von Aspres den Rotor erreiche. Im Falle eines Mißerfolges würde diese Höhe gerade noch reichen, um wieder zum Arambre zurückzukehren. Aber das ist diemal nicht notwendig, und ich freue mich, nicht schon am Anfang Jojo spielen zu müssen.
Mit 2 bis 4 m/s geht’s recht ruppig bis 2200 m. Dann wird’s laminar, und optimistisch steige ich mit rund 2 m/s. Meine Taktik für das Vorhaben war klar: kein weiterfliegen in zu niedriger Höhe, jeder ‘Schuß’ muß ein ‘Treffer’ sein. Denn irgendwo im Hochgebirge niedrig zu sein kann Stunden und damit den ganzen Flug kosten, und das Außenlanderisiko wollte ich sowieso so klein wie möglich halten.
Ich bin in 3200 m. Das Steigen ist nur noch sehr schwach. Aber ich bin sicher, daß die Höhe für den Pic de Bure reicht. Also los. In 2600 m angekommen kann ich zwar gleich Steigen finden, allerdings relativ schwach und an einer eher ungewöhnlicher Stelle, nähmlich deutlich im Südwesten des Berges. Zur Sicherheit mache ich ein paar Meter dazu. Da ich den Pic de Bure aber ganz anders kenne (8-10 m/s sind durchaus möglich), wollte ich mich mit einem knappen Meter nicht zufrieden geben. Fehlanzeige. Statt besseres Steigen nur Saufen. Warum funktioniert der heute nicht? Reumütig kehre ich wieder an die alte Stelle zurück. Getreu meinem Motto bleibe ich jetzt geduldig und steige stetig, aber eben nur mit 1 bis maximal 1,5 m/s. Eine Beleidigung für den Pic de Bure! Mit solchen Steigwerten rückt Masera in die weite Ferne.
Was soll’s! Eine gute halbe Stunde (!) später bin ich in 5500 m. Die Uhr zeigt bereits 12:15. Mit Sebi hatte ich auch gerade wieder Konakt. Fridolin und er hatten bereits den Lac de Serre Poncon hinter sich gelassen und steuern über Embrun und St. Crepin auf Briancon zu. Richtung Grenoble und Rhonetal und weiter nach Nordwesten ist geschlossene Bewölkung. Später habe ich erfahren, daß es bei uns zu Hause am Alpennordrand an diesem Tag stark geschneit hat. Eigentlich ein perfekter Mistral-Tag, aber offenbar stimmt die Windrichtung nicht optimal: der SR940 zeigt 0° bis 30° an. Wie vorhergesagt. Ich hätte schon früher stutzig werden müssen, denn bei Nordost funktioniert der Pic de Bure eben nicht mehr so gut.
Wie auch immer, das noch tief verschneite Hochgebirge begeistert mich wieder von neuem. Die Sicht nach Norden ist atemberaubend. Wärend ich Richtung Ecrins losgleite, schweift mein Blick zum Monte Viso, in die Vanoise, zum Grand Paradiso, und natürlich ins Wallis, links begrenzt durch das gewaltige Mont Blanc Massiv, rechts durch den mächtigen Monte Rosa. Am Matterhorn aber fängt sich mein Blick. Der Berg meiner Träume! Dort will ich heute noch hin. Es steht gerade mal 200 km weiter im Norden, aber der Nordsturm, der oberhalb 4000 m rund 100 km/h stark ist, dürfte die Distanz effektiv verdoppeln.
Ich bin gespannt auf die Brianconaise. Wo steht die nächste Welle? Südöstlich des Mont Pelvoux tauche ich wieder in stark turbulente Luft ein. Der Höhenmesser zeigt 3900 m. Nordöstlich der Barre des Ecrins finde ich schließlich wieder Steigen, und kurze Zeit später gehört mir auch die darüberstehende Welle. Daß ich mich wiederum mit nur 2 m/s zufriedengeben muß, nehme ich nun recht gelassen hin.
Wieder Funkkontakt mit Sebi. Während ich mich allmählich den 6000 m nähere, höre ich aus dem Lautsprecher ein fröhliches „Wir gehn jetzt in Briancon zum Kaffeetrinken!“ Gegönnt sei es Ihnen! „Bin jetzt 6000 m und fliege weiter Richtung Susa Tal.“ „Guten Flug, wir sehen uns in Masera.“ Ich verabschiede mich mit einem „hopefully“, und drücke den Discus auf 160. Jetzt wird’s spannend. Normalerweise steht bei Nordwest eine lange Welle über dem Susatal. Aber bei Nordnordost? In der Tat keine Spur von Welle, sondern nur Sinken, mal mehr, mal weniger. Nach 3000 m Höhenverlust könnte ich allmählich wieder Steigen brauchen. Gezielt halte ich auf Rotorfetzen südöstlich des Lac du Mt Cenis zu. Die müssen gehn, sonst bleibt mir nur Turin. Die ersten beiden, die ich in starker Turbulenz bereits deutlich unterfliege, bringen jedoch absolut nichts. Mir wird schnell klar, daß das nur alte, mit dem Wind wegschwimmende Rotorreste sind. Der echte Rotor steht weiter vorne. In 2900 m fädel ich ihn endlich ein. Allerdings ist es schwierig im Steigen zu bleiben. Nach jedem zweiten Kreis muß ich wieder 100 m gegen den Wind fliegen. Nach einigen Minuten Kampf ist es wieder geschafft. In 3600 m wird’s laminar, diesmal 3-4 m/s. Ich habe jetzt Zeit, die Position der Welle und die zugehörigen Auslöser samt Luftzuführung genau zu studieren: Auslöser eindeutig der Kamm, der sich vom Rocciamelone Richtung Lac du Mt Cenis erstreckt, Luftzufuhr direkt von Norden, und wahrscheinlich ganz entscheidend der Strömungskanal durch den Col du Mt Cenis.
Wieder in 6000 m. 110 km/h Gegenwind. Meine Fußsohlenheizung erlangt unschätzbaren Wert. Hoffentlich hält die Batterie bis zum Schluß. Der Blick Richtung Poebene macht mich nachdenklich. Ab Turin Richtung Norden und Osten erkenne ich eine fast geschlossene Wolkendecke. Was ist denn das für eine Suppe ?? Eigenlich ungewöhnlich für eine so ausgeprägte Nordlage. Der Zander zeigt 30° Track. Auf der italienischen Seite der Ciamarella versuche ich einen möglichst guten Weg zu finden. Gar nicht so einfach. Entschlossen steuere ich auf den Grand Paradiso zu. Hoffentlich geht der, denn die Wolkendecke über der Poebene entpuppt sich tatsächlich als geschlossen, so daß ein Abgleiten auf einen der vielen Ausweichflugplätze nicht möglich wäre. Die Wolkenobergrenze dürfte bei etwa 2000 m liegen. Ich hab also nur zwei Alternativen: entweder Aosta oder Turin.
5 m/s Steigen! Auf der Nordostseite des Levanna Centrale, einige Kilometer südwestlich des Grand Paradiso, finde ich ein gigantisches Hangaufwindfeld. Bald wird mir klar, daß dieser Berg sowie dessen Ausläufer nach Osten perfekt in Resonanz mit der Primärwelle des Grand Paradiso stehen, denn der starke Hangwind geht direkt in die ebenso gute Welle über. So gefällt mir das! Ruckzuck zeigt der Höhenmesser wieder 6000 m.
Es wird Zeit den Film zu wechseln. Zumal das Matterhorn allmählich in greifbare Nähe rückt! Daß das Filmwechseln in dieser Höhe bei diesen Temperaturen jedoch problematisch sein kann, muß ich eine Stunde später leidlich erfahren ...
15:45 Uhr. Wo wohl Sebi und Fridolin sind? In Briancon hatten wir letzten Kontakt. Deren Route führt über den Col du Mt Genevre nach Oulx im Susatal. Dann weiter nach Turin. Wir hatten ausgemacht, daß Sebi in Turin bei mir zu Hause anruft, um eventuell neueste Infos zu bekommen. Meine Eltern waren den ganzen Nachmittag zu Hause, um als Relais Station dienen und eine mögliche frühzeitige Landemeldung weitergeben zu können.
Aber momentan denke ich noch lange nicht ans landen. Das Aostatal liegt mir nun zu Füßen. Die ‘Luvseite’ des Tales glänzt mit Sinkwerten von 4-6 m/s. Trotz gigantischem Höhenverlust bereitet mir das aber keine Sorgen, da ich aus diesem großräumigen starken Sinken eine entsprechend gute Welle über Talmitte oder nördlich davon ableite. Außerdem sind weiter nördlich viele kleine Rotorwolken und zum Teil richtige Rotorbänder zu erkennen, vom Mont Blanc bis zum Monte Rosa. Im Lee des Monte Rosa brodelt sogar eine Rotorwolke, deren Mächtigkeit ich auf mehr als 1000 m schätze. Doch mein Kurs ist kompromißlos ins Valtournenche gerichtet. Denn am Ende dieses Tales, unmittelbar nördlich von Cervinia, erhebt sich das Matterhorn. Und dort will ich hin.
Wie erhofft finde ich etwa 3 km nördlich von Chatillon in 2900 m wieder Steigen. Die zugehörigen Rotorwolken markieren die darüberstehende Welle, die ich bis gut 5200 m nutze. Beim weiteren Vorflug durchquere ich etwas südlich des Ortes Valtournenche eine zweite Steigzone, bevor ich auf der Luvseite einer mächtigen Rotorwolke genau über Cervinia mit über 5-6 m/s in kürzester Zeit abermals von 3500 m auf 5200 m steige. Die Primärwelle des Matterhorns funktioniert perfekt! Mit 170 km/h zischt der Discus weiter gegen den rund 110 km/h starken Nordsturm. Die Sinkwerte im unmittelbaren Leebereich des Matterhorns sind beeindruckend. 800 m Höhenverlust auf 5 km! So komme ich genau auf Gipfelhöhe des Matterhorns an, dessen Nordseite aber dann wieder mit Steigwerten von 4-5 m/s aufwartet. Ähnlich wie am Grand Paradiso geht auch hier der Hangwind direkt in die Welle über. Offenbar sind Oberes und Unteres Gabelhorn die Auslöser, und das Matterhorn trägt genau eine Wellenlänge weiter südlich zur Resonanz bei. Die Luftzufuhr erfolgt optimal über Zinaltal, Turtmanntal und natürlich Mattertal.
Es ist ein unbeschreibliches Naturerlebnis. Über den Gipfeln der Walliser Hochgebirgswelt ziehen gewaltige Schneefahnen ihre Bahnen, und in Verbindung mit dem Spiel der Wolken erinnert mich das Schauspiel an stimmungsvolle Szenen im Segelflugbildkalender. Insbesondere ist die Wolken/Schneefahne am Matterhorn faszinierend, die vom Gipfel bis einige hundert Meter ins Lee reicht. Natürlich will ich solche Bilder fotografisch festhalten, doch beim Aufziehen muß ich feststellen, daß sich der Film nicht mehr transportieren läßt, weil die Perforation durchgerissen ist. Ausgerechnet jetzt! Ausgerechnet hier über dem Matterhorn! Der Film war einfach zu kalt und steif geworden. Für die Zukunft merke ich mir, erstens ein Filmwechseln in 6000 m zu vermeiden, und zweitens den Fotoapparat möglichst nahe am Körper zu tragen, wenn’s so kalt ist.
Es ist mittlerweile 17 Uhr. Bis Masera sind es noch rund 60 km. In 4900 m gleite ich über den Gornergletscher nach Osten. Unter dem rechten Flügel die Eiswelt des Monte Rosa. Ohne Höhenverlust erreiche ich die Dufourspitze. Der Blick nach Südosten macht mich noch glücklicher über den gelungenen Flug, denn aufgrund der geschlossene Wolkendecke über der Poebene hätte ich den Monte Rosa aus Sicherheitsgründen nie im Südosten umflogen. Ebenso wie die Wolkendecke im Aostatal bis zum Talknick bei St.-Vincent vorgedrungen war, hatte sie das Valle d’Ossola vom Lago Maggiore her bis zum Talknick bei Pieve Vergonte überflutet. Offenbar war insbesondere in niedrigerer Höhe sehr feuchte Luft aus Osten eingeflossen. Von der Großwetterlage her paßte das wohl auch mit der Höhenwindrichtung 0°-30° zusammen.
Das Abgleiten wird ab 3600 m von starker Turbulenz begleitet. Meine Höhe würde im reinen Gleitflug noch locker bis Ascona oder Locarno reichen, aber ich freue mich jetzt auf Masera.
Um 17:42 Uhr hat mich die Erde wieder. Beim Ausrollen sehe ich einen Ventus und zwei etwas verblüffte Gesichter: Anderl und Malte. Sie waren am Vortag von Zuhause aus angereist und wollen ein paar Tage hier bleiben, bevor sie nach Barcelonnette weiterfahren. Anderl hatte heute einen wunderschönen Flug bis kurz vor Bozen und kann nach seiner Rückkehr nur begeisterte Worte finden.
Nachdem wir den Ventus abgebaut hatten, beginnt das Warten auf Sebi und Fridolin. Die Fahrt war doch länger als ursprünglich geplant (wieviel Kaffeepausen die beiden wohl eingelegt haben ??); schließlich treffen sie gegen 21:00 Uhr (müder als ich) in Masera ein. Im Scheinwerferlicht bauen wir noch den Discus ab und freuen uns dann auf eine leckere Pizza.
Hans Fitterer